Interview mit Till Amelung über "Irrwege" queerer Politik

„Das ist einfach nur noch drüber“

Till Amelung gehört innerhalb der LSBTI-Community zu den schärfsten Kritikern queer-feministischer Auswüchse in derselben. Demnächst erscheint sein erster Sammelband zu der Thematik: „Irrwege. Analysen akueller queerer Politik“ im Queerverlag. Wir sprachen mit ihm über linke Identitätspolitik und fehlende bürgerliche Tugenden.

LSU: Lieber Till, der Titel deines Sammelbands lautet „Irrwege“ – was läuft denn schief in der queeren Community?
Till Amelung: Ich kann vielleicht mal mit einem Beispiel einsteigen, das nichts mit queerer Politik zu tun hat. Auf Twitter hat kürzlich ein Soziologe einen Degussa-Vorstand als Idioten bezeichnet, weil er Bafög- und Sozialhilfeempfängern das Wahlrecht entziehen wollte. So jemanden hätte ich auch Idiot genannt. Plötzlich entdecke ich darunter aber eine irrwitzige Diskussion. Die drehte sich dann darum, dass „Idiot“ ein behindertenfeindlicher Begriff sei. Ich glaube, außer denen da, die das geschrieben haben, hat bei dem Begriff niemand an Behindertenfeindlichkeit gedacht. Diskurs hier, Diskurs da – eigentlich ist das doch eine sehr bemühte Interpretation des Wortes. Aber: Alle regen sich schön auf, streiten sich und am Ende ist nichts gewonnen außer, dass man sich fragt: Was ist denn hier schiefgelaufen?

LSU: Du stellst also fest, dass es immer mehr abgehobene Diskussionen gibt, die nichts mehr mit der Realität von über 90 Prozent der Menschen zu tun haben?
Till Amelung: Mit diesem Phänomen beschäftigt sich „Irrwege“ im Allgemeinen und mein eigener Text beschäftigt sich dabei mit Identitätspolitik. Andere Texte fragen zum Beispiel, ob Begehren als solches schon diskriminierend ist, wie es von dieser Sorte Aktivismus oft behauptet wird. Es geht schon so weit, dass manche sagen, wenn jemand einen bestimmten Menschen nicht begehrt, ist er schon „phobistisch“. Ein heterosexueller Mann, der nicht auf Männer steht, gilt dann schon als homophob. Ein schwuler Mann, der nicht auf Frauen steht, ist dann frauenfeindlich. Und wenn man keine Transleute begehrt, ist man transfeindlich. Es ist einfach drüber.

LSU: Woher kommt so eine Denkweise?
Till Amelung: Ich sehe da eine Verbindung zu Theorien, die inzwischen stärker in der Praxis des Aktivismus Verwendung gefunden haben: die Queer-Theory, der Postkolonialismus – im Grunde ein ganzer Strauß an poststrukturalistisch basierten Theorien, in denen es vor allem um Diskursanalyse und Dekonstruktion geht.

Zur Person:
In zwei Büchern aus der sogenannten „Kreisch-Reihe“ vom Queerverlag hat Till Amelung bereits Aufsätze veröffentlicht. Nun folgt sein eigener Sammelband in derselben Reihe: „Irrwege. Analysen aktueller queerer Politik“. Till Amelung hat Geschichte und Geschlechterforschung in Göttingen studiert und arbeitet aktuell im Veranstaltungsmanagement der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Er bezeichnet sich selbst als bürgerlich-liberal, auch wenn er sich nicht parteipolitisch engagiert. Sein Buch befasst sich mit Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Politik.
LSU: Was sind das für Menschen, die sich darauf stützen und diese Art von queerem Aktivismus pflegen?
Till Amelung: Ich glaube, das sind Leute, die anfangs idealistisch sind – aber dann kippen sie irgendwann in eine bestimmte Richtung um, wenn sie bestimmte Theorien entdecken. Diese eignen sie sich dann aber häufig nur versatzstückhaft an, übernehmen irgendwelche Denkschemata. Dann meinen sie, die hätten die Welt verstanden und könnten einfach mal loslegen. Da fehlt aber das Menschliche, das Realitätsbezogene und die Bereitschaft, sich mit anderen auseinanderzusetzen. Und zwar so auseinanderzusetzen, dass man sich beiderseits nicht die Würde nimmt und fair bleibt.

LSU: Entsteht da bei manchen auch ein Absolutheitsanspruch, wenn sie so eine Theorie entdeckt haben?
Till Amelung: Ja, das kann man so sagen. Im Grunde haben da auch Menschen den Glauben an die Gestaltungsfähigkeit durch sachorientiertes politisches Arbeiten verloren. Es geht nur noch darum, wie jemand das vom Kuchen abbekommen kann, was ihm seiner Meinung nach zusteht. Und dann gerne auch noch mehr – und das ‚Wie‘ ist dann völlig Wurst. Dann versucht man das häufig über so eine Dichotomie „marginalisiert versus privilegiert“. Wir zwei wären dann zwei weiße, privilegierte Männer, die erstmal ordentlich einen auf den Po zu kriegen haben.

LSU: Das beschreibt ja auch Deine Kritik an der Identitätspolitik: Ich habe gewisse Merkmale, die ich nun mal einfach habe – und entweder bin ich damit auf der guten Seite oder auf der bösen?
Till Amelung: Genau, das kehrt man dann so raus und wähnt sich dann aufgrund dessen, dass man ja so eine arme Sau ist, in der Position, dass man sich alles Mögliche erlauben darf. Die Philosophin Martha Nussbaum hat 2019 in ihrem Buch „Königreich der Angst“ herausgearbeitet, wie die Emotion des Neids auch Demokratien zersetzen kann. Für mich ist das ganze Privilegien-Gedöns von manchen Aktivisten genau das: Es ist purer Neid – und das wird die Welt nicht besser machen.

LSU: Wäre das Gegenmodell zu Identitätspolitik eine klassische Gesellschaftspolitik? Also dass man zum Beispiel ein genderpolitisches Thema schon behandelt aber integrierend in eine Gesamtgesellschaft hinein?
Till Amelung: Das könnte man so sagen. Aber vor allem geht es auch um eine Haltung, um das Idealmodell von Bürgerlichkeit. Dass es bestimmte Regeln einer öffentlichen Diskursbildung braucht und auch ein öffentliches Miteinander, wie es vom klassischen bürgerlichen Verständnis geprägt wurde. Ich glaube nicht, dass wir anderweitig überhaupt etwas schaffen, wo man in der Lage ist, grundsätzlich in Verhandlung zu treten – und sich trotzdem nicht totzuschlagen, um es mal überspitzt zu formulieren.

LSU: Durch die Kritik, die du damit am queer-feministischen Aktivismus formulierst, positionierst Du dich eher im rechten politischen Spektrum, oder?
Till Amelung: Ich bin nicht parteipolitisch unterwegs aber würde mich eher als konservativ, bürgerlich bezeichnen, vielleicht auch eher mit dem Touch Liberalismus. Aber leider werde ich eben aufgrund meiner Positionen direkt in die ganz rechte Ecke gestellt.

LSU: Als das Buch „Beißreflexe“ von Patsy l‘Amour LaLove herauskam, gab es erheblichen Widerstand aus der queer-feministischen Bewegung, die ihr darin kritisiert hattet. Was warf man euch da vor?
Till Amelung: Die Kritiker sagten, wir würden rechte Diskurse bedienen, allein der Tonfall sei schon schrecklich. Ob an der Kritik selber inhaltlich etwas dran ist, darüber wurde dann aber gar nicht mehr gesprochen.

LSU: Das ist ja auch eine Form von Diskursmacht, dass man die Debatte auf einen Nebenkriegsschauplatz verlagert, zum Beispiel die Form kritisiert, um sich nicht mit dem Inhalt auseinandersetzen zu müssen.
Till Amelung: Richtig, das ist dabei auch passiert. Und es wurde damit völlig geleugnet, dass es irgendwelche Probleme gibt.

LSU: Habt ihr als Autoren denn dann Unterstützung erfahren von anderen Personen oder Gruppen?
Till Amelung: Ich habe durchaus Privatnachrichten von Leuten bekommen nachdem Vorträge von mir abgesagt werden mussten aufgrund von Shitstorms und massivem Unterdrucksetzen von denen, die mich eingeladen haben. Viele sind aber vorsichtig. Sie warten zwar darauf, dass man eine sachliche Debatte führen kann. Sie wollen aber nicht die sein, die dazu einladen, weil sie nicht die Ressourcen haben, um sich diesem massiven Widerstand da entgegenzustellen und das auszuhalten. Man kriegt da eine ganze Latte E-Mails, bösartigste Nachrichten in den sozialen Netzwerken, rufschädigende Vorwürfe. Auch andere Stellen werden angeschrieben, zum Beispiel der Arbeitsplatz. In linken Kreisen führt das dann dazu, dass Leute regelrecht rausgemobbt werden.

LSU: Es ist doch skurril, dass das ausgerechnet innerhalb einer Community passiert, die sonst immer auf Toleranz pocht – und sie dann selber nicht an den Tag legt.
Till Amelung: Das noch komischere an der ganzen Geschichte ist, dass diese Leute auch auf die draufschlagen, die eigentlich zu ihren eigenen Leuten zählen müssten, aber ihre Meinung nicht teilen. Etwa der Transmann, der Aspekte im Transaktivismus kritisiert. Oder die migrantische Frau, die sich anders zu patriarchalen Strukturen äußert – beispielsweise zum Thema ‚Kopftuch‘. Dann ist es plötzlich nicht mehr gut, wenn jemand aus einer Minderheit spricht. Dann ist man ein Token, ein Verräter, eine Marionette, oder wird anderweitig als illegitim hingestellt.

Inhaltsverzeichnis
Nach oben